Bundesweite russische Gemeinde traf sich in Gießen
Gießen (srs). Ein Familientreffen der bundesweiten russischsprachigen Gemeinde erlebten am Samstag die Gießener Hessenhallen. Rund 2500 Besucher kamen zur Verbrauchermesse "Dioe großen Seidentraße", die zugleich als "Zentralasien-Kulturfestival" firmierte.
Gießener Allgemeine Zeitung, Artikel vom 13.09.2010
Die Gießener Hessenhallen waren am Samstag fest in russischer Hand: Vor einem kirgisischen Jurte tanzten die achtjährigen Zwillinge Marina (l.) und Sabina. (Foto: srs)
Familie Feil isst zu Abend. Sergej und seine Eltern löffeln roten Lachskaviar aus einer Dose und beißen in Weißbrotscheiben. Immer wieder kippen sie einen Schluck Wodka herunter, während russische Schlager den Platz vor den Hessenhallen beschallen - ohne Ausnahme in treibendem Zweivierteltakt. Die Familie ist aus der Nähe von Mannheim nach Gießen gereist. »Wir leben heute unsere Nostalgie aus«, erläutert Sergej Feil, der aus Kasachstan stammt. Unter dem Titel »Die große Seidenstraße« firmiert am Samstag in den Hessenhallen eine Verbrauchermesse. Für die meisten der rund 2500 Besucher jedoch ist es, wie Sergej erklärt, ein »Familientreffen der bundesweiten russischsprachigen Gemeinde«.
Draußen tanzen die Gäste zu vertrauten Liedern aus der Heimat und kosten Spezialitäten - drinnen in den Hessenhallen schlendern sie an Ständen entlang, wo Geschäftsleute unter anderem Fertighäuser, Einbauküchen und Busreisen anbieten. »Wir haben uns auf einen riesigen Markt von 3,5 Millionen russischsprachigen Menschen in Deutschland spezialisiert«, erläutert der Mitarbeiter eines Herstellers von Wasseraufbereitungsanlagen. »Das ist eine Subkultur, mit eigenen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern.«
Zwei junge Frauen stöckeln in weißen, drall anliegenden Kleidern durch die Halle und verteilen Werbeprospekte für eine russische Hochzeitsagentur mit Sitz im schwäbischen Waiblingen. Ein Unternehmer verteilt die »Goldenen Seiten« - eine Branchenbuch russischer Firmen im Rhein-Main-Gebiet, mit einer Auflage von 40000 Exemplaren.
Am Eingang hat sich Franz Goldstein postiert, dessen Finanzinstitut Geldüberweisungen vor allem zwischen Deutschland und dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion tätigt. Die russische Sprache beherrsche er, »weil ich als Kind Waldorfschüler war«. Lange habe sein Unternehmen um das Vertrauen seiner Klientel werben müssen, berichtet Goldstein. Gleichzeitig habe er selbst Vertrautheit mit »der raueren Umgangskultur« seiner zumeist aus Russland stammenden Kunden erlernen müssen.
Aus dem gesamten Bundesgebiet sind Menschen zu der Verbrauchermesse angereist. Gießen- so sagt Veranstalter Georg Dell - habe man als Ort der Veranstaltung aufgrund der zentralen Lage ausgewählt. Gießener selbst allerdings sind offenbar in der Minderheit.
»Eine wirkliche russischsprachige Gemeinde mit Zusammenhalt und regelmäßigen Treffen gibt es hier in der Stadt eigentlich nicht«, schildert eine Gießenerin, die an einem Stand Filme und Musik in russischer Sprache verkauft. Dies bestätigt die seit zwölf Jahren hier lebende Liuba Gur. Sie verweist indes auf das Deutsch-Russische Zentrum in der Talstraße, das Kindern die russische Sprache und Kultur vermittelt. Mädchen und Jungen des Zentrums musizieren während des Nachmittags auf einer Bühne in den Hessenhallen neben weiteren Gesangs- und Tanzgruppen.
Draußen am Eingang ist derweil ein Jurte aufgestellt: ein großes traditionelles Zelt der Nomaden Zentralasiens. Kirgisen des Internationalen Freundschaftsvereins »Manas« bitten hinein und laden zu einer Tasse säuerlich schmeckender gegärter Stutenmilch.
Vor dem Zelt stellt der Autor Danijar Derkembaev sein Buch »Frau Fremdenland« vor. Bis zu diesem Jahr war das Werk, in dem der einstige Polizeibeamte Derkembaev in Gedichten und Prosa fehlende Gerechtigkeit und Freiheit in Kirgistan beklagt, in seiner Heimat verboten. Der Autor blickt auf die vor der Halle an langen Holztischen sitzenden Gäste. »Schade, dass die Russischsprachigen hier wieder nur für sich sind«, bedauert er - und wünscht sich »mehr Interesse« auch der Gießener Bürger. »Integration bedeutet doch auch, dass die Deutschen auf uns zukommen und sich mit unserer Kultur auseinandersetzen.«